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Place du 11 Novembre 1918

In der letzten Woche war ich zur Recherche für ein neues Buch in Bordeaux und nutzte die Gelegenheit, mir die Gedenkveranstaltung zum 8.Mai anzusehen. In Frankreich ist das Ende des Zweiten Weltkriegs ein Feiertag.

In Bordeaux gedenkt man dem 8. Mai 1945 auf dem Platz des 11. Novembers 1918. Diese Datenkombination sorgt bei mir für einen heftigen Mix von Gedanken und Empfindungen. Nach dem Ersten Weltkrieg schwor sich die französische Gesellschaft, nie wieder Krieg zu führen. Der Arc de Triomphe wurde 1921 zum Grabmal des unbekannten Soldaten umgewidmet: Über ein Grab kann man nicht trampeln. Nie wieder sollten siegreiche Soldaten dort paradieren, Schluß mit alledem! In Deutschland zogen einflussreiche rechte Kreise genau den entgegengesetzten Schuss aus dem Ersten Weltkrieg, sannen auf Rache. Für Hitler selbst war das ein wichtiges Motiv. 1940 stand Frankreich dann schutzlos da. Als Winston Churchill sich in den Tagen des deutschen Vormarschs bei seinem französischen Kollegen nach der “strategischen Reserve” erkundigte, brach dieser in Tränen aus. Dabei war die deutsche Aufrüstung nicht zu übersehen. Warum hat Paris nicht reagiert?

Meine ganze Jugend hörte ich die Flüche meines französischen Großvaters darüber, von der politischen und militärischen Führung Frankreichs verraten worden zu sein. Er vermutete, das rechte Pack in Armee, Adel und Politik Frankreichs habe lieber Hitler im Land gehabt, als die linke Volksfrontregierung unter Léon Blum zu dulden. Quälende Fragen.

La Place du Onze Novembre besteht aus schönen Platanen und einem immensen Mahnmal mit den Namen der Toten. Ich war noch nie in dieser Ecke von Bordeaux. Es ist, als würde man das Unterbewusstsein des ganzen Landes besuchen.

Der Bereich der Veranstaltung ist abgesperrt, aber davor liegt der Herrschaftsbereich der Frauen und Töchter der Soldaten. Hier wird Creme ins männliche Gesicht appliziert, werden Krägen gerichtet, Béréts justiert und überhaupt der ganze Mann betrachtet und für gut befunden. Ein beleibter Offizier bemerkt leicht panisch, dass er das falsche Holster am Gürtel trägt: Es ist weiß, aber er möchte eines in Tarnfarbe. Sein Adjudant flitzt los, alles muss perfekt sein heute.

Wenn man selbst nicht gedient hat, versteht man so eine Zeremonie nur zum Teil. Abordnungen aller Waffengattungen sind da und vollziehen eine komplizierte Choreografie mit Wendungen, Saluten und Respektbezeugungen auf begrenztem Raum. Tetris mit Delegationen. Die Sache sieht auch die Anwesenheit der politischen Repräsentanten vor, hier werden sie nur les autorités genannt. Die kommen etwas zu spät, eigentlich sind die Soldaten zu früh auf ihren Positionen. Also wird mehrere Minuten gewartet und zwar in völliger Stille. Hier schaut niemand aufs Smartphone.

Einer Soldatin wird schlecht, sie wird leise und behutsam auf einer Parkbank abgelegt. Nicht lang, dann will sie wieder paradieren, aber eine Kameradin drückt sie sanft zurück. Ausruhen.

Die PolitikerInnen haben es auch nicht leicht. Der Bürgermeister von Bordeaux ist der grüne Pierre Hurmic. Er hätte sehr gerne geredet, muss heute aber schweigen. Denn ein Minister aus Paris ist anwesend und zwar Thomas Cazenave, zuständig für den Haushalt. Ein Mann mit vielen Ambitionen, darunter jener Bürgermeister von Bordeaux zu werden. Hurmic muss also der Rede seines kommunalpolitischen Rivalen lauschen. Sie geht schnell. Cazenave redet wie ein Flippermeister - die Älteren werden sich an diese Spielgeräte mit Metallkugel erinnern: Er lässt jedes Thema einmal anklingeln. De Gaulle, Hitler, die Ermordung der europäischen Juden, die Collaboration und die Résistance. Auftrag für heute :Terrorismus, Ukraine, Nahost. Alles drin, in drei Minuten ist alles erledigt. Am 8.Mai 1945 begingen die französischen Truppen in Algier ein schreckliches Massaker. Davon war aber nicht die Rede.

Rund um diese Veranstaltung paradieren Soldaten des Heeres in Dreiergruppen, das sind die Patrouillen im Rahmen des ewigen Antiterrorprogramms Vigipirate. Die Gedenkveranstaltung wäre ein leichtes Ziel, denn die Männer und Frauen der Truppe haben auf so einer Veranstaltung zwar Waffen, aber keine Munition dabei. Nach all den islamistischen Anschlägen geht Frankreich stets vom schlimmsten Fall aus.

Um elf begann die Sache, um zwölf ist sie wieder vorüber. In Gedanken hörte ich meinen Großvater seufzen: Ils n’en ont pas fini avec leur conneries? Passons aux choses sérieuses: Oú est ce qu’ on va manger?

Endlich hört dieser heuchlerische Quatsch auf, Zeit für die ernsten Fragen: Wo wollen wir zu Mittag essen?

Vor ein paar Tagen ging ich mit meinem Sohn an einem Stand der AfD vorbei. Er schlug vor, seine Freunde anzurufen und den Stand zu Kleinholz zu verarbeiten. Ich hielt es für eine erwägenswerte Idee, aber als Erziehungsberechtigter hat man ja leider auf Risiken und Nebenwirkungen hinzuweisen. Da gibt es, versuchte ich einen Spannungsmoment aufzubauen, eine legale, geräuschlose und noch viel, viel wirksamere Methode, diese Partei zu bekämpfen, nämlich am 9. Juni zur Wahl zu gehen. Unter seinen Freundinnen und Freunden steht die Stimmabgabe für das Europaparlament noch nicht sehr weit oben in der Hierarchie ihrer Themen. Kein Wunder: Selten wird erklärt, wie viel Macht man an der Wahlurne tatsächlich hat. Dieses von Ulrich Wickert herausgegebene Buch soll das Gefühl jugendlicher Ohnmacht zerstäuben. Es versammelt prominente Autorinnen und Autoren, gibt praktische Hinweise und trifft meiner Meinung nach den richtigen Ton. Sollten alle Erstwählerinnen zuhause haben, aber auch wir Veteranen des Wahlsonntags können uns davon inspirieren lassen.

In der vergangenen Woche starb Bernard Pivot, ein verehrungswürdiger Kulturvermittler im französischen Fernsehen. Bei ihm waren alle zu Gast, von der Literaturnobelpreisträgerin zum Comiczeichner, von der Schauspielerin zum Spitzenkoch. Die Grenze zwischen E und U überwand er spielend, jede Sendung war sehenswert und die meisten auch live. Es gelang, weil er jedes Mal ein Risiko einging. Vladimir Nabokov war auch mal zu Gast und las, wie es bei ihm üblich war, die schriftlich formulierten Antworten auf zuvor eingereichte Fragen ab – aber so, dass niemand es merkte. Nabokov trank gern einen Whisky, den er sich während der Sendung aber aus einer Teekanne einschenken ließ, um der Jugend kein schlechtes Beispiel abzugeben. Sternstunde von Pivots Karriere war der Auftritt von Charles Bukowski, echte Fernsehgeschichte.

https://www.youtube.com/watch?v=1xqD-Qh1Zx0 (Opens in a new window)

Vor einiger Zeit hatten wir eine Reise nach Israel geplant und ich freute mich schon auf einen Besuch bei Ottolenghi in Tel Aviv, aber es kam bekanntlich anders. Die Lektüre seiner Rezepte ist Nahrung für den Tagtraum von Frieden in Nahost und eines Tages wird es wieder soweit sein.

https://www.theguardian.com/food/article/2024/may/11/yotam-ottolenghi-five-ingredient-or-thereabouts-recipes-chicken-rice-spring-onion-broad-beans (Opens in a new window)

Kopf hoch,

ihr

Nils Minkmar

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